Um die medizinische Versorgung der Opfer sexueller Gewalt zu verbessern und ihnen den Zugang zu einer "verfahrensunabhängigen" und zugleich gerichtsfesten Beweissicherung zu ermöglichen, hat die saarländische Landesregierung in Kooperation mit dem Frauennotruf Saarland und weiteren Kooperationspartnern im Rahmen des Aktionsprogramms „sexuelle Gewalt hinterläßt Spuren“ ein Verfahren zur vertraulichen Spurensicherung nach sexueller Gewalt eingeführt.
Im Rahmen der vertraulichen Beweissicherung, die von speziell geschulten Ärztinnen und Ärzten durchgeführt wird, werden die Gewaltspuren - die für eine spätere Anzeige bei der Polizei unter Umständen hilfreich sein können - vertraulich dokumentiert und kostenlos - für zunächst 10 Jahre - aufbewahrt.
Da viele Betroffene von sexueller Gewalt unmittelbar nach der Tat nicht in der Verfassung sind, die Entscheidung für oder gegen eine polizeiliche Anzeige zu treffen, werden die meisten Sexualdelikte nicht angezeigt. Aus Angst vor einer fremdbestimmten Anzeige nehmen viele Betroffenen zudem auch keine ärztliche Hilfe in Anspruch und bleiben daher auch medizinisch unversorgt.
Betroffene, die unmittelbar nach der Tat nicht in der Lage sind, sich für eine Strafanzeige zu entscheiden, haben mit der vertraulichen Spurensicherung die Möglichkeit, die Spuren der Gewalttat auch ohne polizeiliche Anzeige gerichtsfest sichern zu lassen. Sie erhalten damit den Zugang zu einem Angebot, das ihnen die Möglichkeit für eine selbstbestimmte Entscheidung sowie Zeit und Raum für die Bewältigung ihrer schwierigen Situation gibt.
Wesentliche Ziele der Vertraulichen Spurensicherung sind daher die Verbesserung der bestehenden Hilfeangebote und der medizinischen Versorgung für die Opfer von sexueller Gewalt, die Ermöglichung eines niedrigschwelligen Zugangs zu einer verfahrensunabhängigen Beweissicherung sowie die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für das Thema sexuelle Gewalt - und damit verbunden schließlich auch eine Erhöhung der Anzeigebereitschaft der Betroffenen.
Nein. Es wäre natürlich sinnvoll, möglichst schnell Spuren zu sichern und entsprechend zu dokumentieren. Aber einige Verletzungen sind noch Tage später feststellbar (und müssen unter Umständen versorgt werden) und auch eine spätere, gut durchgeführte Dokumentation, kann für eine potentielle Anzeige relevant sein.
Außerdem kann die Betroffene auch noch nach Tagen mit Informationen zum psychosozialen Hilfesystem versorgt werden und somit längerfristig dort eine Unterstützung in Anspruch nehmen.
Das Verfahren der polizeibeauftragten Spurensicherung und das der vertraulichen Beweissicherung wurden mit Blick auf die Gerichtsverwertbarkeit und die Qualitätssicherung der Spurensicherungsmodelle eng aufeinander abgestimmt und angeglichen. D.h. im Verfahrensablauf der Spurensicherung macht es für den Arzt bzw. die Ärztin für die Untersuchung und Dokumentation keinen Unterschied, ob die betroffene Person in Begleitung eines Polizeibeamten bzw. einer Polizeibeamtin oder alleine (bzw. mit einer Vertrauensperson) zur Spurensicherung kommt.
Das Spurensicherungsverfahren selbst ähnelt der allgemeinen Untersuchung im Praxis- bzw. Klinikalltag. Die Spurensicherung beginnt mit einer allgemeinen Anamnese, an die sich konkrete Fragen zum Tathergang sowie danach eine körperliche Untersuchung anschließen. Entsprechende Befunde sind in den Dokumentationsbogen einzutragen und gegebenenfalls durch eine Fotodokumentation festzuhalten.
Nach der polizeibeauftragten Spurensicherung ist der Dokumentationsbogen das Spurenset sowie die Fotodokumentation an die Polizei zu übergeben. Mit Blick auf eine mögliche spätere Zeugenvernehmung bei Gericht empfiehlt es sich, den Dokumentationsbogen vor Abgabe an die Polizei zu kopieren und die Kopie zu den Patientenakten zu nehmen.
Im Fall der vertraulichen Spurensicherung verbleibt der Dokumentationsbogen in der Praxis bzw. in der Klinik. Die gesicherten Spuren sind zeitnah an die Rechtsmedizin zu verschicken. Sie verbleiben dort für zunächst 10 Jahre. Eine Verlängerung der Lagerung ist möglich.
Die Postexpositionsprophylaxe ist nicht Bestanteil der vertraulichen Spurensicherung. Mit Blick auf den Sozialdatenschutz der betroffenen Person soll diese möglichst im Rahmen eines zeitigen Nachsorgetermins in einer niedergelassenen Praxis im Rahmen der Regelversorgung oder in eiligen Fällen in einer Notfallambulanz an einer Klinik erfolgen. Die betroffene Person ist hierüber entsprechend aufzuklären.
Im Anschluss an die Spurensicherung hat der Schutz der betroffenen Person oberste Priorität. Dabei muss im Individualfall entschieden werden was sinnvoll ist. Wichtig ist, dass nichts über den Kopf der Betroffenen hinweg entschieden wird.
Zunächst gilt es mit der betroffenen Person zu besprechen, ob die Polizei hinzugezogen werden soll, um eine Anzeige zu erstatten. Dieser Schritt muss gut überlegt sein, da es sich bei einer Vergewaltigung um ein sogenanntes Offizialdelikt handelt. Eine Anzeige der Tat zieht also unwiderrufliche eine Strafverfolgung nach sich und kann nicht zurückgezogen werden. Wenn die Betroffene noch nicht sicher ist, ob sie das möchte, gilt es, diesen Wunsch zu respektieren.
Für Betroffene kann es hilfreich sein, diese Entscheidung in einem Beratungsgespräch in einer fachspezifischen Beratungsstelle zu besprechen (siehe entsprechende Stelle - Linksammlung).
Als weitere Schutzmaßnahme kann es sinnvoll sein, Angehörige zu informieren und/oder der Frau die Möglichkeit einer Unterkunft in einem Frauenhaus vorzuschlagen. Das ist vor allem dann hilfreich sein, wenn die Gewalt in im häuslichen Umfeld stattgefunden hat oder die Frau sich in ihrem eigenen zuhause nicht vor Übergriffen sicher fühlt. Weiterhin kann es hilfreich sein- das Einverständnis der Frau vorausgesetzt- in ihrem Beisein einen Anruf bei den entsprechenden Stellen für sie zu tätigen, ein Taxi oder vertraute Personen der Betroffenen zu rufen.
In Fällen sexueller Gewaltanwendung werden – sofern eine sichere Schwangerschaftsverhütung nicht gewährleistet ist - die Kosten für „Pille danach“ vom Land getragen – und zwar unabhängig davon, ob die Tat bereits beanzeigt wurde oder nicht. Hierzu ist das entsprechende Formular im Dokumentationsbogen zu verwenden und an die untersuchte Person auszuhändigen.
Die interministerielle Arbeitsgruppe, die den Rahmen der VSS im Saarland erarbeitete, hat sich darauf verständigt, Kinder bis 14 Jahren grundsätzlich primär innerhalb einer Kinderschutzgruppe zu versorgen.
Die Entscheidung, eine geschulte frauenärztliche Kolleg*in zur Untersuchung und Spurensicherung hinzuzuziehen, soll individuell von der federführenden Kinderärztin bzw. dem federführenden Kinderarzt entschieden werden.
Ab 14 Jahren ist eine VSS möglich, die Entscheidung richtet sich aber im Einzelfall immer nach der Reife der Betroffenen, ähnlich, wie dies auch bei anderen Behandlungen von Jugendlichen im ambulanten Bereich gilt.
Untersuchende Ärztinnen und Ärzte müssen sich also von der geistigen Reife der Jugendlichen ein genaues Bild machen und ihre Einschätzung dokumentieren, am besten im Einvernehmen mit einer weiteren anwesenden Fachkraft (Krankenpflege, MFA).
Auch bei Jugendlichen gilt die ärztliche Schweigepflicht, auf Wunsch der Betroffenen auch gegenüber den Erziehungsberechtigten (im saarländischen Modell geklärt).
Besonderes Augenmerk muss allerdings auf die Abklärung der Schutzbedürftigkeit gelegt werden, da die Möglichkeiten von Minderjährigen, eigenständig zu handeln, eingeschränkt sind.
Eine Pflicht zur Information des Jugendamtes besteht nicht, wohl aber eine Befugnis, das JA zu informieren, z.B. wenn der weitere Schutz oder sichere Verbleib einer/s Minderjährigen nicht gesichert ist.
Ärztinnen und Ärzte können sich in solchen Fällen (auch ohne Nennung des Namens der/des Betroffenen) von „insofern erfahrenen Fachkräften“ des örtlichen Jugendamtes beraten lassen. Die folgenden spezialisierten Beratungsstellen für Kinder und Jugendliche bei sexuellem Missbrauch/ sexueller Gewalt verfügen auch über entsprechend geschulte Fachkräfte:
NELE - Beratung gegen sexuelle Ausbeutung von Mädchen
Dudweilerstraße 80
66111 Saarbrücken
Telefon 0681 / 320 58 und 0681 / 320 43
PHOENIX - Beratung gegen sexuelle Ausbeutung von Jungen
Schubertstraße 6
66111 Saarbrücken
Telefon 0681 / 7619685
E-Mail: phoenix@lvsaarland.awo.org
SOS-KINDERSCHUTZ und Beratung Saar
Karcherstraße 13
66111 Saarbrücken
Telefon 0681 / 910070
Auch die medizinische Kinderschutzhotline bietet rund um die Uhr eine direkt verfügbare, kollegiale Beratung und Fallbesprechung. Das Angebot ist steht bundesweit kostenfrei unter 0800 19 210 00 zur Verfügung. Den Beraterinnen und Beratern steht zudem rund um die Uhr ein fachärztlicher Hintergrunddienst zur Verfügung. Weitere Informationen unter: www.kinderschutzhotline.de
Betroffene sexueller Übergriffe erfahren über verschiedene Kanäle über die Möglichkeit der VSS (Internet, Presse, Plakate, Infos durch professionelle und private Bezugspersonen…) und können so auf Eigeninitiative Kontakt zu Ihrer Praxis oder zur Klinik aufnehmen
Direkt zu Ihnen können die Betroffene auch gelangen, wenn sie von der Polizei begleitet werden, oder sie nach einem Beratungsgespräch, z.B. über den Frauennotruf Saarland oder einer anderen Fachberatungsstelle Kontakt aufnehmen, oder über die Rettungsleitzentrale an Sie vermittelt wurden.
Wenn es vorab eine Kontaktaufnahme gibt und somit zu einer zeitnahen Terminvereinbarung kommt, ist es sinnvoll, ein entsprechendes Zeitfenster einzuplanen. Denn die Untersuchung nach einer Vergewaltigung ist nicht mit einer Standarduntersuchung zu vergleichen; sie braucht länger Zeit, eine möglichst angenehme Atmosphäre ist wichtig und störende Unterbrechungen sollen möglichst vermieden werden. Z.B. könnte in der Praxis am Ende oder nach der Sprechzeit ein Zeitkorridor dafür geschaffen werden.
Durch die Chiffre, die im Rahmen der Vertraulichen Spurensicherung generiert wird, können die gesicherten Spuren und die angefertigte Dokumentation nach einer Beanzeigung durch die Strafverfolgungsbehörden eindeutig zugeordnet werden.
Das Angebot der vertraulichen Spurensicherung kann im Saarland sowohl in ausgewählten Kliniken wie auch in niedergelassenen Praxen wahrgenommen werden.
Auf der Seite www.spuren-sichern.de sowie unter der Telefonnummer (0681) 844 944 bei der Rettungsleitstelle Saarland erfahren Betroffene rund um die Uhr, wo sich die nächstgelegene Praxis bzw. Klinik befindet, die die vertrauliche Spurensicherung anbietet. Betroffene haben hier außerdem die Möglichkeit, sich über das Verfahren und die Kontaktdaten von Beratungsstellen in Wohnortnähe zu informieren. Das Angebot ist für die Betroffenen kostenlos.
Bei der Untersuchung von Betroffenen mit einer kognitiven Beeinträchtigung ist zu bedenken, dass- möglichst in leichter Sprache – den Menschen erklärt wird, welche Untersuchungsschritte jetzt nötig sind und was gerade passiert.
Weiterhin ist hier wichtig zu wissen, dass Übergriffe auch durch betreuende Personen, Angehörige, durch Mitarbeitende in Einrichtungen oder durch bestellte Betreuungspersonen geschehen können und dass diese kein Interesse daran haben, dass die betroffenen eine Untersuchung machen lassen. Deshalb ist hier u.U. wichtig, dass ein Gespräch auch ohne die Betreuungsperson Sinn machen kann.
Die Begleitung durch eine selbst gewählte Vertrauensperson kann für die Betroffenen eine wichtige Unterstützung sein, um überhaupt einen solchen Schritt gehen zu können.
Dies können Freund*innen, Angehörigen oder professionelle Bezugspersonen, zum Beispiel von Unterstützungseinrichtungen wie Beratungsstellen sein.
Bei fehlenden Sprachkenntnissen kann eine Dolmetscherin / Sprachmittlerin eingeschaltet werden. Bei der Beratungsstelle Beratung Interkulturell können Sie – mit einer entsprechenden Vorlaufzeit – im Bedarfsfall eine Dolmetscherin /Sprachmittlerin zu einem Untersuchungstermin hinzuziehen:
Beratung Interkulturell von Frauen für Frauen
Rosenstraße 31
66111 Saarbrücken
Telefon: 0681- 37 35 35
E-Mail: info@beratung-interkulturell.com
Für die Abrechnung der polizeibeauftragten Spurensicherung ist das entsprechende Formular zu verwenden, das sich im Dokumentationsbogen befindet.
Die Vergütung der vertraulichen Spurensicherung erfolgt über das Abrechnungsportal der Kassenärztlichen Vereinigung Saarland.
Abhängig davon, wie oft eine vertrauliche Spurensicherung nachgefragt wird, ist es sinnvoll, einen Vorrat von zwei bis drei Spurensets in Ihrer Praxis bzw. Klinik vorzuhalten.
Falls Sie neue Untersuchungssets benötigen, kontaktieren Sie bitte den Frauennotruf Saarland. Bedenken Sie, dass die Nachlieferung einige Tage in Anspruch nehmen kann. Setzen Sie sich daher bitte frühzeitig mit uns in Verbindung:
Telefon: 06 81/ 9 38 58 78 (oder 0681/3 67 67)
per E-Mail: info@frauennotruf-saarland.de
Bitte nennen Sie eine Kontaktperson (Chefarztsekretariat, Abteilung, Station o.Ä.), damit die Bestellung in Ihrer Einrichtung zugeordnet werden kann.
Die neuen Spurensets werden Ihnen über den Kurierdienst von FLIS - Frauenärztliche Leistungsgesellschaft im Saarland mbH zugeschickt.
Rückfragen und allgemeine Informationen zur Konzeption der Vertraulichen Spurensicherung:
Ministerium für Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie
Referat C 2 - Gleichstellungs- und Frauenpolitik, Gewalt gegen Frauen
Franz-Josef-Röder-Straße 23
66119 Saarbrücken
Telefon: 0681/501-3186
E-Mail: k.weindel@soziales.saarland.de
Ansprechperson bei der Ärztekammer des Saarlandes
Dr. Klaus-Henning Kraft
Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe
Beauftragter des Berufsverbandes der Frauenärzte für Hilfen gegen Gewalt
Telefon: 0 68 97/97 20 20
E-Mail: Dr.Kraft@telemed.de
Ansprechperson für medizinisch-forensische Fragen zur Spurensicherung nach sexualisierter Gewalt
Institut für Rechtsmedizin der Universität des Saarlandes
Telefon 06841 16-26300
Außerhalb der Geschäftszeiten ist die Rufbereitschaft des diensthabenden Arztes bzw. der diensthabenden Ärztin aufgesprochen.
Für die Bestellung neuer Spurensets stehen die Mitarbeiterinnen des Frauennotrufs zur Verfügung.
Frauennotruf Saarland
Nauwieser Straße 19
66111 Saarbrücken
Telefon 0681 36767
Kontakte zu Beratungsstellen und Schutzeinrichtungen (Frauenhäuser) im Saarland
Kontakte zu niedergelassenen Psychotherapeuten:
Fachinformationen zur HIV-Postexpositionsprophylaxe (PEP oder HIV-PEP) sowie Praxen und Kliniken, die 24-Stunden eine Postexpositionsprophylaxe anbieten:
www.hivandmore.de/aerzteverzeichnis
Weitere Informationen:
www.aidshilfe.de/de/sich-schuetzen/hiv/aids/post-expositions-prophylaxe/pep
Leitfaden „Häusliche Gewalt“
Die Broschüre „Häusliche Gewalt: Erkennen - Behandeln - Dokumentieren" soll Ärzten wie auch Zahnärzten als Leitfaden zur frühzeitigen Erkennung häuslicher Gewalt dienen. Auch soll sie aufzeigen, wie Verletzungen zeitnah gerichtsverwertbar zu dokumentieren sind, um beispielsweise zur Beweisführung in zivil- und strafrechtlichen Verfahren beizutragen.
Broschüre „Gewalt gegen Kinder und Jugendliche - Handlungsmöglichkeiten und Kooperation im Saarland“ (3. Auflage)